Reisebericht des Kuratoriums
Ein Reisebericht setzt das Reisen voraus. Das aber ist zu kurz gekommen in unserer Auswahlphase. Corona hat die Theater lahm gelegt, Vorstellungen sind kurzfristig ausgefallen oder wurden verschoben. Wir saßen also weitgehend vor dem Bildschirm fest. Ein Vorteil für die Freie Szene, die oft nur wenige Spieltermine anbieten kann: Nun wurde sie erneut gleichwertig wahrgenommen mit den Theatern und Sparten für ein junges Publikum. In unserer Auswahl spiegelt sich das wider, mit einem großen Anteil freier Produktionen. Kooperationen freier Gruppen mit festen Häusern sind ja ohnehin längst ein bewährtes Modell, auch das zeigt unser Zehner-Tableau. Aber fehlt hier nicht etwas: Nur ein Theatertext, vom Autor-Regisseur selbst inszeniert, ansonsten Stückentwicklungen und Performativ-Installatives? Ja, uns haben diese Setzungen eher überzeugt (auch wenn manches, das uns am Herzen lag, zwischen Nominierungsrunde und Endauswahl weggefallen ist). Die Zehner-Auswahl spiegelt natürlich auch die Sehgewohnheiten und Geschmäcker unseres Fünfer-Kollektivs wieder. Und sie ist ein Aufruf an die Künstler*innen, ästhetisch und inhaltlich mutig zu sein. AUGENBLICK MAL! versammelt ja seit langem die innovativen Setzungen, die neue Wege weisen. Und weniger das, was im Alltagsbetrieb funktioniert. Daran haben wir uns bei der Auswahl orientiert.
Was ist uns begegnet bei unseren Sichtungen? Themencluster, klar. Die Klimakrise und die Zukunft unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens beschäftigen die Theater wie ihr junges Publikum vorrangig. Wie lebt man, wenn das Trinkwasser knapp wird, aber das Meer in die Städte schwappt? Wird eine Öko-Diktatur herrschen oder organisieren wir uns weiterhin demokratisch? Das sind Fragen, die im Kinder- wie Jugendtheater vorgebracht werden. Daneben sind uns natürlich auch die klassischen Themen des jungen Theaters begegnet: Freundschaft, Erwachsenwerden, Coming-out. Und wenig Eltern – der emanzipative Ansatz ist Theateralltag.
Dabei wirkt Vieles noch immer recht elitär, richtet sich vorrangig an ein weißes, vom eher akademischen Elternhaus geprägtes, also klassisches Publikum. Diverse Ensembles auf der Bühne sieht man vor allem dann, wenn es inhaltlich um Diversität geht. Zwar haben wir erfreuliche Beispiele für mehr Barrierefreiheit gesehen; eine Inszenierung, bei der Gebärdensprache integriert ist, haben wir ausgewählt. Aber noch immer sind Spieler*innen und Zuschauer*innen mit Behinderung und gesellschaftsbedingten Einschränkungen zu selten im Theater vertreten. Aufgefallen ist uns auch, dass wenig wirklich Partizipatives angeboten wird, Vieles ereignet sich in der Black Box. Gibt es hier doch mehr Berührungsängste und bequeme Gewohnheiten als es sich das Kinder- und Jugendtheater selbst zuschreibt? Wer den Ausgang der Vorstellung vom Publikum abhängig macht, riskiert das Scheitern. Zwei Inszenierungen, die hier etwas wagen, haben wir eingeladen. Gerade das Kindertheater, so unser Eindruck, kann sich auf die Entdeckungsfreude und Spiellust seiner Zielgruppe noch mehr verlassen und ästhetisch mutiger sein.
Trotz dieser Entwicklungsspielräume, an denen die Szene ja längst arbeitet, ist die Offenheit der jungen Darstellenden Künste groß. In Klassenzimmern und Turnhallen wird gespielt, Audiowalks führen in die Stadt, mit der Pandemie wurde der digitale Raum erschlossen (auch wenn das Meiste hier noch im Experimentierstadium steckt). Der Dialog mit dem Publikum ist ein Muss. Ohne Vermittlung und Kontaktaufnahme ist das junge Theater nicht vorstellbar. Umso mehr haben wir uns gefreut, dass unsere Auswahlperiode die erste war, in der auch wir mit jungen Theaterexpert*innen kooperieren durften. Die Vertretung junger Perspektiven war uns ein geschätztes Gegenüber. Ihre Voten haben unsere Entscheidungen wesentlich beeinflusst. Und wir haben eine gegenseitige Offenheit erlebt, die Mut macht. Ein altersoffenes oder jung co-besetztes Auswahlgremium sollte unbedingt für die künftigen Ausgaben von AUGENBLICK MAL! geschaffen werden.
Das Festivalkuratorium: Antigone Akgün, Malte Andritter, Dorothea Lübbe, Elena Philipp und Winfried Tobias
Wenn ihr mit den Kurator*innen über die Auswahl sprechen möchtet, könnt ihr dies am 24. April um 18:30 im Festivalzentrum tun.